Zum Inhalt springen

Schluss mit dem Spiritualisieren: Ein Talent sind 600.000 Euro!

Das Gleichnis von den Talenten, genauer „Das Gleichnis vom anvertrauten Geld“ aus dem Matthäus-Evangelium kennt fast jeder christlich geprägte Mensch.
In der Regel wird das Talent in dem Gleichnis als eine oder mehre individuelle Fähigkeiten interpretiert. Versteht man aber Talent als das, was es in der alttestamentarischen Zeit wirklich war, nämlich als Zahlungsmittel, dann wird dieses Gleichnis zu einer bemerkenswerten Parabel der Befreiungstheologie. Lesen Sie dazu Eleonore Reuters Interpretation dieser Bibelstelle.

Viele Menschen ärgern sich über „Gleichnis von den anvertrauten Talenten“ (Mt 25,14-30), haben Mitleid mit dem bestraften Knecht und finden das Verhalten des Gutsherrn ungerecht. Sie können sich nicht vorstellen, dass Gott so handelt wie der Gutsherr. Damit haben sie völlig Recht, denn man kann den Text auch so deuten, dass der Held des Gleichnisses der letzte, der rausgeworfene ist. Vier Dinge sind dafür notwendig:

  1. Die Parabel ist ein Vergleich und die Pointe ist der Gegensatz zwischen der Welt und dem Himmelreich.
  2. Man darf die Parabel nicht allegorisch deuten und den geldgierigen Herrn mit Gott gleichsetzen.
  3. Ein Talent ist ein großer Geldbetrag. Der Text handelt von Geld, nicht von Fähigkeiten der Menschen.
  4. Der Text muss in seinem Kontext – der Endzeitrede Jesu – gelesen werden.

Im Gleichnis ist von riesigen Geldmengen die Rede, da 1 Talent etwa 6.000 Tageslöhnen (vgl. Mt 20,1-5), bei 8 Stunden Arbeitszeit am Tag und einem Mindestlohn von 12 Euro also ca. 600.000 Euro, entspricht. In der Antike durften nur Freie mit fremdem Kapital handeln. Die Sklaven im Gleichnis mussten ihrem Herrn den Gewinn abliefern. Während für den Gutsherrn zwei Talente nur „Weniges“ (Mt 25, 20.23) waren, wäre ein Verlust für die Sklaven nie zu ersetzen gewesen.
An das Gleichnis schließt sich die Rede vom Weltgericht an, in der die Hungernden, Flüchtlinge, Nackten und Gefangenen als Geschwister Jesu angesehen werden (Mt 25,31-46). Dies hilft, das Gleichniss von den anvertrauten Talenten zu verstehen: Der dritte Sklave verkörpert die Gerechten, deren Tun die Armen im Blick hatte und die zur Rechten des Menschensohns sitzen werden.
Das Gleichnis handelt von einem Fürsten, der König werden will und dazu nach Rom reisen muss. Deshalb setzt er Statthalter ein, die während seiner Abwesenheit auf die gleiche Weise, wie er selbst herrschen sollen. Die Weise der Herrschaft zeigt sich in der Reaktion des dritten Sklaven, der sich vor ihm fürchtet und ihn „knochenhart“ (skleros) nennt. Auch die Gewinnerwartung spricht für sich: Eine Verdoppelung des Kapitals war nur möglich durch Spekulation mit Lebensmitteln (vgl. Lk 12,16–21) oder durch Verleihen gegen Zinsen (vgl. Lk 16,5–7). Allerdings sind Zinsen in der alttestamentlich-jüdischen Tradition verboten („Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen...“ (Dtn 23,20f; vgl. Ex 22,24; Lev 25,36f). Für Ez 18,8.13.17 gilt Zinsnahme sogar als Verbrechen. Kredit wurde im Normalfall nicht für Konsumgüter gewährt, sondern ermöglichte in Not geratenen Bauern, Saatgut zu kaufen um einen drohenden Bankrott abzuwenden. Dann sind Zinsen der Anfang einer Spirale in die Sklaverei, weil im folgenden Jahr nicht nur der normale Ertrag erwirtschaftet werden musste, sondern ein Plus zur Tilgung der Zinsen. Von diesen Verboten her gesehen, mussten sich die beiden ersten Diener also über die Regeln der Tora hinwegsetzen um den Gewinn zu erwirtschaften. Im Unterschied zu den beiden „erfolgreichen“ Sklaven verhält sich der dritte toragemäß. Daran, dass der Herr von ihm fordert, gegen die Tora zu verstoßen, zeigt sich, dass der Fürst im Gleichnis des jüdischen Rabbi Jesus nicht mit dem Gott Israels gleichgesetzt werden kann, der seinem Volk die Tora als Lebensweisung gegeben hat.
Bei der Abrechnung belohnt der Fürst die ersten beiden Sklaven. Der Erzähler des Gleichnisses will damit sagen: „Wer bei diesem Spiel der Geldvermehrung mitmacht, der wird von den Herrschenden belohnt.“ Wer das System ablehnt, wird außen vor bleiben und selbst zu den Verlierern gehören.
Nach der hier vorgeschlagenen, von der Befreiungstheologie inspirierten Lesart ist der Dritte der eigentliche Held der Erzählung, denn er leistet aus Glaubensüberzeugung dem Herrn Widerstand: „Du nimmst, was du nicht angelegt hast“.  Er verweigert sich damit diesem Herrn und dem durch ihn repräsentierten System. Für diese Haltung, die es wagt, den Effekt des „richer-get-richer“ als hartherzig abzulehnen, ist er sogar bereit, die Konsequenzen zu tragen.

Gott und seine gerechte Welt sind der Gegenentwurf zur Welt im Gleichnis. Alle, die das Gleichnis hören und die Tora Gottes kennen, spüren das Unrecht der Geschichte und wissen: Gott, der Exodusgott und der von Jesus verkündigte Gott, ist nicht so wie der harte Herr. In Gottes Welt geht es anders zu: dort sind nicht Profit und Gewinnmaximierung das Ziel, sondern Gerechtigkeit und Schalom. Dort bekommen alle, was sie brauchen, dort gibt es kein Weinen und Wehklagen mehr, weil Gottes Gerechtigkeit sich durchsetzen wird.

Eleonore Reuter

 

Prof.in Dr. Eleonore Reuter war bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand 2022 Professorin an der Katholischen Hochschule Mainz. Nach dem Studium der Theologie an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn promovierte sie 1992 und war von 2008 Professorin an der Katholischen Hochschule in Mainz. Seit 1997 / 98 wohnt und lebt sie in Icker.